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Karl-Karol Chrobok: „Kreuzfahrer und Schamane“
Künstlerhaus Göttingen, 14. Mai 2006

Meine Damen und Herren,
wenn Sie denken, Sie befinden sich jetzt in einer Kunstausstellung, dann liegen Sie damit - im Prinzip schon ganz richtig. Allerdings: Der Künstler, dessen Werkeheute hier zu sehen sind, Karol Chrobok, könnte durchaus anderer Meinung sein.Mit dem Ausstellungstitel scheint er uns vorzuwarnen. Er bezeichnet sich als „Kreuzfahrer und Schamane". Und weist uns damit darauf hin, dass es ihm mit seiner Kunst nicht darum geht, uns Betrachtern das Blickfeld mit ästhetisch reizvollen Wahrnehmungsprodukten zu garnieren. In der Tat bezieht er das Formenrepertoire seiner Objekte ganz offensichtlich unter anderem aus rituellen und religiösen Zusammenhängen. Seine Werke ähneln Kultgegenständen verschiedener Kulturen, der Schwerpunkt jedoch liegt beim Christentum: Kreuz, Altar, Reliquie, heilige Bücher, Weihwasserbecken und Schreine habe ich entdeckt. Manches Objekt mag auch an ein Totem erinnern. Und wahrscheinlich finden Sie noch Einiges andere, an das Sie die Kunstwerke denken lassen.

So wie Chrobok seine Arbeiten entlang der Wände arrangiert hat, sind sie zudem nur schwer als separat, als für sich stehend zu betrachten. In ihrer rhythmischen Anordnung treten sie in Kontakt miteinander. Materialien, Farben, Kompositionslinien und wiederkehrende Formen bringen sie in Verbindung. So ist die ganze Ausstellung zugleich als alles übergreifende Rauminstallation, also als Gesamtkunstwerk zu lesen. Chrobok verschiebt auf diese Weise die Bedeutung der Galerieräume in Richtung Kultort. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wer oder was wird hier beschworen? Wozu will uns der „Kreuzfahrer und Schamane" Chrobok wohl bekehren? Antworten auf Fragen dieser Art findet man im Zusammenhang mit den uns vertrauten Kulten gewöhnlich auf zweierlei Weise: Entweder man befragt den zuständigen Priester (und Sie sind herzlich eingeladen, das später noch zu tun) oder man liest es nach. Zu fast jedem Kult gibt es ja heutzutage so etwas wie eine Bibel.

In Karol Chroboks Arrangement hier finden wir insgesamt fünf davon: Zwei große Bücher mit beeindruckenden Ausmaßen in den beiden Räumen hier nebenan, zwei weitere, kleinere im Raum dort drüben (Säulenraum) und noch ein winziges, das fest mit einer kreuzähnlichen Konstruktion verschraubt ist. So wie dieses sind auch die meisten anderen der Bücher sind eingebunden in Objekte, nur eines ist aufgestellt auf einem Ständer. Im Gegensatz zu mancher Religion sind bei Chroboks Kult die Originale der „heiligen Schriften“ also erhalten, man sollte sie daher mit besonderem Respekt behandeln. Durch die Art ihrer Präsentation wird offensichtlich, dass diese Bücher nicht für alle zu berühren und zu studieren sind. Eines jedoch ist aufgeschlagen und erlaubt Ihnen so einen Einblick in Inhalt und Machart der Bücher. In den zwei großen, so kann ich Ihnen als seit kurzem vom „Schamanen“ persönlich Initiierte verraten, befinden sich dicht bepackte Collagen aus Zeugnissen, Relikten und Reliquien des künstlerischen Gärprozesses. Dazu gehören unter anderem: Fahrkarten, Landkarten, Fotografien eigener Werke, Bilder von Werken anderer Künstler und kleine Skizzen zu Gedanken oder Formfindungen, die diese bei Chrobok ausgelöst haben. Alles ist zusammengehalten von einer unglaublichen Menge an Heftklammern - die übrigens auch bei den dreidimensionalen Arbeiten ein zentrales Verbindungs- und Gestaltungselement sind. Der Künstler selbst bezeichnet diese Kompendien collagierter Blätter als Tagebücher. Was er darin festhält, sind Fahrten, Erlebnisse und Ideen. Kurzum: seine Reisen und Gedankenreisen. Das ist das Ausgangsmaterial für seine Kunst. Um Reisen und Gedankenreisen geht es auf unterschiedliche Weise auch in seinen dreidimensionalen Werken. Größtenteils bestehen sie aus Fundstücken, die der Künstler auf der Strecke zwischen Atelier und Wohnung auf der Straße aufliest. Im weitesten Sinne sind es sozusagen Devotionalien seiner alltäglichen und seiner künstlerische Wege, die er später im Atelier in einem langwierigen Prozess von unbestimmter Dauer und mit unplanbarem Ergebnis weiterverarbeitet: Er kombiniert sie mit Fragmenten aller erdenklichen Materialien und weiterer Fundstücke, überzieht sie mit Strukturen aus pastös verarbeiteter Farbe und einem dichten Netz aus den bereits erwähnten Heftklammern.

An erster Stelle der künstlerischen Arbeit steht bei ihm das spontane „Stolpern" über Dinge, das Sehen und Entdecken, Beobachten und Erkennen von Gegenständen und Zusammenhängen. Dazu gehören nicht nur offene Augen, sondern auch ein offener Geist, in etwa vielleicht die Einstellung eines Reisenden beim Erkunden fremder Kulturen und Territorien. Diese Haltung ist die entscheidende Grundlage von Chroboks Kunst. Eine Wurzel dafür ist in seiner Biographie zu finden. Sein Leben begreift er im Grunde als Wanderschaft: Bereits mit 15 Jahren verließ er seinen Geburtsort, das polnische Tychy, um die ersten Schritte seiner künstlerischen Ausbildung an einer staatlichen Kunstschule zu absolvieren. Später zog es ihn zum Kunststudium nach Krakau. Im Alter von 28 Jahren entschloss sich Chrobok schließlich, das damals noch kommunistische Polen zu verlassen und wanderte nach Deutschland aus. Nach einer Zwischenstation in Göttingen lebt und arbeitet er heute in Köln.

Unter dem Eindruck der Einschränkungen des politischen Systems erschien ihm Deutschland damals, zum Zeitpunkt seiner Auswanderung, als die „bessere Realität". Was er hier zu finden hoffte, war Freiheit: für seine künstlerische wie für seine persönliche Entwicklung. Diese Sicht ist mittlerweile einer kritischeren Einschätzung gewichen. In den inzwischen fast zwanzig Jahren in Deutschland hat Chrobok erfahren, dass Künstler auch in einer Demokratie Hürden und Stolpersteine zu überwinden haben. Kunst zu machen, ist - wie jede persönliche Mission - durchaus mit Schmerz, Leid und Kampf verbunden. Und trotzdem etwas, woran zu glauben, was zu machen, sich lohnt. Diese Entscheidung für den eigenen Weg, ist es, wofür sich Chrobok auf Kreuzzug begibt. Sein Credo ist die Unabhängigkeit von den Regeln jedweder Ideologie (sei es der kommunistischen, sei es der kapitalistischen), es ist die Haltung des Reisenden als Lebensmodell: Geh mit offenen Augen durch die Welt, schau genau hin, beobachte die Zusammenhänge und bestimme selbst, wo und womit du dich zu Hause fühlst. Das verkünden seine Werke nicht nur unter Zuhilfenahme christlicher Symbolik. Auch durch die detailreichen Kontraste zwischen Materialien, Formen, künstlerischen Techniken, Erinnerungs-, Denk- und Assoziationsanreizen unterschiedlichster Art und Herkunft entfaltet Chrobok seinen Zauber. Die Objekte fordern Zeit und Muße, denn durch ihre Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit entziehen sie sich dem schnellen Kategorisieren. Das führt zum Beispiel das Kreuz ganz gut vor Augen: In Chroboks künstlerischem Kosmos ist es gleichzeitig formales Grundelement und inhaltliches Motiv. Keinesfalls ist es nur als das christliche Symbol für Leiden und Erlösung zu lesen. Man findet genauso das Koordinatenkreuz (mit dem der Künstler die von ihm entdeckten Welten vermisst). Oder das Fensterkreuz (das die vom Blick erfasste Welt in verschiedene Bereiche teilt). Oder das Wegkreuz (das dem Suchenden verschiedene Richtungen zur Auswahl und zur Orientierung gibt). Ein schnelles Urteil über Inhalt und Wesen seiner Objekte macht uns Chrobok auf diese Weise schwer, wenn er es nicht gleich komplett verhindert. Beides - Inhalt und Wesen - ist nicht endgültig zu entschlüsseln, sondern abhängig vom persönlichen Hintergrund der Schauenden: unserer Kultur, Erlebnisse und Erwartungen. Was darin zu finden ist, welchen Wert sie letztlich haben, hängt wohl vor allem davon ab, ob und wie weit jeder einzelne die Augen öffnet, sich einfangen und zum aufmerksamen Schauen verführen lässt, sich weglocken lässt vom rationalen, rationellen, zielgerichteten Denken und Handeln, hin zum Träumen und intuitiven Erfassen.

Davon will ich Sie jetzt nicht länger abhalten. Lassen Sie sich verzaubern!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.