Zwischen dem 'Großen Abstrakten" und dem "Großen Realen"
Zu den Arbeiten von Karl Chrobok

Ein Kopf, der aussieht, als entstamme er einem Räderwerk. In axialer Symmetrie wendet er sich frontal dem Betrachter zu. Kräftig hat die Radiernadel eine einfache, ovale Umrisslinie gezogen. Das flächige Gesicht wird durch präzise Koordinaten unterteilt. Statt auf Augen, Mund und Nase schauen wir auf Rechtecke, Vierecke und Dreiecke, auf wellige Linien, Kourbaturen und Kreise, auf seltsame Kürzel; stenographische Chiffren und Abbreviaturen. Die Radiernadel setzt ihren Weg fort, reißt die Umrisse eines stämmi­gen Halses in die Platte und solide Schultern, Die kompakten, graphischen Lineaturen von Kopf und Torso heben die Bildfigur kontrastiv vom Bildgrund ab. wo die Linien leichter, luftiger und spielerischer, ja auch organischer und weniger mathematisch sich zeigen. In seiner technischen Faktur sieht der anonyme "Kopf" (1996) des Künstlers Karl Chrobok aus wie ein Emblem des Computerzeitalters.

Darüber hinaus verweist das Blatt auf vielerlei, was für seinen Autor charakteristisch ist. Dass Karl Chrobok seinen künstlerischen Weg nicht als Maler, sondern als Zeichner und Radierer begonnen hat. Dass er, als er im vollen Sinn des Wortes zu malen begann, bereits ein kompletter Künstler war, der ein eindrucksvolles gra­phisches Oeuvre vorzuweisen hatte. Dass phantastisch skurrile Zeichnungen am Anfang einer Kunst stehen, die dann ganz andere Dimensionen angenommen hat. Dass bis heute Zeichnen und Radieren für ihn ein wichtiges Ausdrucksmedium sind, obwohl er sie im Ver­gleich zur Ölmalerei eher als Divertimenti begreift. Dass die graphischen Blätter durchaus eine wichtige Facette seines Werkes darstellen. Und dass die Strichsicherheit, die sich da offenbart auch ein charakteristischer Zug seiner Arbeiten in Öl ist.

Ein weiteres Moment, das dieses Blatt wichtig und charakteri­stisch macht, ist sein Motiv. Köpfe spielen im Werk von Karl Chrobok eine dominante Rolle. Nun ist der Kopf ein Motiv, das uns in der Ikonographie der Kunst- und Kulturgeschichte immer wieder begegnet. Von den Strichfiguren vorzeitlicher Höhlenmalerei über die abendländische Porträtierungskunst bis hin zu den grotesken Köpfen eines surrealen Pandämoniums in unserem Jahrhundert. Zu allen Zeiten hat der Kopf des Menschen die Phantasie der Künstler bewegt und ihr Interesse erregt. Als Sitz von Verstand und Intelligenz nimmt er, wenn es um die Darstellung des Menschen geht, eine dominierende Rolle ein. Das illustriert schon die antike Herrschaftsparabel in der römische Senatoren den aufbegehrenden Plebs ermahnen, gesellschaftliche Organisationen in Analogie zum menschlichen Organismus aufzufassen und also die Regierung als steuernden Kopf und sich selbst, das Volk als gehorchenden Körper zu akzeptieren. Zudem ist das Gesicht die Bühne mimischen Ausdrucks, in dem sich Charakter, Haltung, Emotionen und Seelenregungen spiegeln, und damit der bevorzugte Ort Porträtierender Kunst.
 

Schauen wir, was Chrobok aus dem Motiv macht! Realistische oder gar naturalistische Sichtweisen interessieren ihn nicht. Er konzentriert sich nicht auf das Individuelle eines Ausdrucks, sondern auf das Generelle eines Zustandes. Sein Bild vom Menschen bewahrt ganz ähnlich wie die eingangs skizzierte Zeichnung auch in den großen Ölbildern nicht mehr als die Konturen des Motivs. Der Mensch hat in der künstlerischen Auffassung dieses Jahrhunderts als Krone der Schöpfung längst abgedankt. Als solchen will ihn auch Chrobok malerisch nicht mehr feiern. Aber als Gegenstand ei­ner allgegenwärtigen Präsenz wird der Kopf für ihn Ausgangspunkt malerischer Exerzitien, die sich gewissermaßen als Malerei. verselbstständigen. Chrobok geht es primär um die Form, weniger um den Inhalt. Es sei denn, man wolle die grotesken Köpfe und Wesen, die der Künstler aus einem Feuerwerk von Farben und aus einem La­byrinth an Lineamenten gewinnt a1s emblematische Figuren zeitgenössischer Deformation und Entfremdung lesen. Für solchen Symbo­lismus aber fehlen ihnen entschieden das entsprechende Grau in Grau des Auftritts und der melancholische Zug. Die farbfröhliche und fantasievolle Faktur von Chroboks Bildern lassen eher an arabische Märchenerzählungen und an theatralische Inszenierungen voller. Überraschungen denken. In erster Linie liefert der Künstler mit seinen Köpfen nicht ein Porträt des Menschen, sondern das Porträt einer fabulierenden Malerei.

 

Ein morgenländisches Motiv inszeniert Karl Chrobok auch mit seinem Gebetsteppich aus dem Jahre 1986. Er nennt das Bild "Die zehn Gebote des Malers" und nutzt, das islamische Darstellungsver­bot gegenständlicher Motive, um ein ironisches Plädoyer zu Gunsten der abstrakten Malerei zu halten, über das er sich aber schon im nächsten Bild wieder hinwegsetzt. Auf weißem und bordeauxrotem Grund hat der Maler schwarze Linien eingezogen, zwischen denen allerlei schräge geometrische Figuren, unregelmäßige Kreise, wackelige Winkel und schräge Kreuze tanzen. Im malerischen Zitat werden da nicht nur arabische Arabesken vorgeführt im wörtlichen und übertragenen Sinn - sondern auch der Geometrismus eines Mondrian. Und wenn der Künstler in einem kurz zuvor gemalten Bild in einer figurativ allegorischen Figur den "Schlaf" (1985) beschwört, dann setzt er in solch anscheinend paradoxalen Setzungen gleichsam spielerisch die Alternative vom "Großen Abstrakten" und vom "Großen Realen" außer Kraft, die Wassily Kandinsky beim Blick auf die Kunst dieses Jahrhunderts als Konstitutiv ausgemacht hatte.

Die malerischen Grenzgänge, die Karl Chrobok unbekümmert um die Doktrinen von Abstraktion und Figuration vollzieht, werden auch bei seiner Behandlung des Kopfmotivs sichtbar. “Derselbe Kopf" aus dem Jahre 1985 arbeitet mit den Gegensätzen eines monochromen schwar­zen Hintergrundes, eines sich nach unten hin öffnenden, weißen Rahmens und dem orange roten, flächigen Mosaik geometrisierender Motive. Das Mosaik sieht aus wie ein Gedankenteppich, wie die To­pographie eines fantastischen Traumes, in dessen Mitte Chrobok im vexierenden Spiel von en face und Profilansicht den Kubismus zi­tiert. Ein anderes Bild aus demselben Jahr, "Zwei Köpfe", erinnert in seiner stilisierten Darstellungsweise an afrikanische Masken und an Bilder des deutschen Expressionismus. Mit dem "Zauberer" aus dem Jahre 1989 zieht im Gegensatz zu den früheren Bildern eine geradezu explodierende Farbigkeit ins Bild. Dagegen vertraut der Kopf des "Jongleurs" (1993) ganz auf die Equilibristik von Linie und Farbe. Torso und Gesicht, Augen, Mund und Nase, lösen sich auf in eine futuristische Bewegung rollender Bälle und Spiralen, als jongliere er mit seinem Körper. überschaut man die Behandlung des Motivs durch Chrobok im zeitlichen Abstand von zehn Jahren, fällt auf, dass der Künstler anfangs den Kopf zugunsten einer figurativ gestimmten Darstellung in Farbe und Form stark reduziert. Allmählich aber wird das Sujet in immer abstraktere Form geometrisiert und verfremdet. Dazu tragen bei eine intensive Farbigkeit und schönlinige Stilisierung. Am Ende werden die labyrinthischen Formen wieder klarer und die Farben disziplinierter, allerdings bei einer komplexen overall Komposition, welche die frühen Bilder nicht kannten.

Eine thematische Ausweitung erfährt das malerische Oeuvre, indem Chrobok seine Aufmerksamkeit vom Kopf ab und der menschlichen Figur zuwendet und von da weiter geht zur Darstellung ganzer Figurengruppen. Auffällig ist, dass die Themen sich nicht chronologisch entwickeln, sondern eher parallel zueinander im Werk auftauchen. Was indes unabhängig von der Motivik als Konstante beob­achtet werden kann, ist die dynamische Entwicklung seiner malerischen Mittel, die mit den Jahren immer freier und beherrschter werden. Schauen wir auf die Evolution der Figur! Schon der "Zusammengerollte Mensch" aus dem Jahre 1985 zeigt eine ganzheitliche Gestalt. Die Glieder sind manieristisch gelängt und erinnern an Amedeo Modigliani. Die Bewegung des nach vorne gebeugten Oberkörpers mit den über den Kopf gestreckten Armen wirkt wie eine orientalische Demutsgeste. Die Gestalt wird eingefasst durch einen sich nach unten hin öffnenden, weißen Rahmen, der für die Bilder aus dieser Zeit charakteristisch ist; und der dunkle Fond des Bildes bildet den bekannt reizvollen Kontrast für die rote Farb­igkeit der Figur. Das sparsame Netz von Lineamenten, das wie ein stilisiertes Adersystem den Körper überzieht, ist nur ein blasser Abglanz der phantasmagorischen Strichlust späterer Bilder genau wie die Beschränkung auf wenige Farben den kommenden Farbrausch nicht ahnen lässt.

Wir konstatieren weiterhin ganz ähnliche formale Tendenzen; wie wir sie bei der Entwicklung des Kopf-Motivs beobachten konnten. „Die spanische Prinzessin" aus dem Jahre 1992 hat einen überdimensionierten, bildbeherrschenden Kopf, aus dem ihr ein atrophierter Körper gewachsen ist. Ihre Armstümpfe indes strecken sich in einen Bildraum, der voll unterschiedlicher Motive steckt, als wollten sie von ihm Besitz ergreifen wie von einem Imperium. „Der Meister der Ikone" (1989/94) dagegen hemmt jeden weit ausholenden, gestischen Pinselschwung. Kopf und Körper des Bildes,  das die Ikone als Ikone, das Bild also als Bild rühmt, bauen sich auf aus kalkuliert gesetzten, additiven und kleinteiligen Motiven. Eine vielfach modulierte Opposition.von Blau und Rot beherrscht das Tableau. Eine neuerliche Kehrtwendung sowohl in der Auffassung der Figuration als auch der Farbe macht Chrobok mit der Arbeit „Individualist" aus dem Jahre 1995. Das Bild markiert eine Bruchstelle. Es steht am Übergang zu den großmotivigen, gestischer Arbeiten der letzten Jahre. Aber in Form und Farbe bewahrt es gleichwohl noch Züge des komplexen Mosaiks früherer Bilder. Die Abstraktion indes ist fortgeschritten, Der Körper des Individualisten ist vor allem in seiner vertikalen Aufrichtung auszumachen. Ansonsten konterkariert die anonyme Pinselschrift seiner Existenz aufs Nachdrücklichste der Titel der Arbeit.

 

Die lemurenhafte, an Jean Arp erinnernde Abstraktion, die sich dort manifestiert, weist voraus auf die Bilder der "Große(n) Versammlung(en)" aus dem Jahre 1996, in denen Karl Chrobok thematisch zur Darstellung von Menschengruppen übergeht, nachdem er zuvor schon Paarbeziehungen malerisch thematisiert hat. Damit folgt er in der Deklination seiner Themen der Konjugation der Verben und der Soziologie des Seins. Immer geht der Blick des Ichs - nachdem er selbsterforschend auf sich geruht hat - irgendwann zum Du und dann zum Wir und von dort zum Sie, zu den Anderen. Die Brücke zum Du unter dem Aspekt des erotischen Verlangens zeigt eindrucksvoll die Arbeit "Das dunkle Feuer des Begehrens" aus dem Jahre 1890, für die Karl Chrobok mit dem Göttinger Kulturpreis ausgezeichnet wurde. Sie steht noch ganz im Zeichen einer zwar formalisierten, aber gleichwohl deutlich zu dechiffrierenden Figuration. Mann und Frau werden beieinander gehalten durch libidinöse Ströme des Begehrens, die nicht nur eine rot- und schwarz glühende Topographie der Lust zwischen ihnen zeichnen, sondern sie auch wie ein einziges, auf ewig verbundenes Wesen erscheinen lassen. Schauen wir auf spätere Paarbearbeitungen wie auf die "Verlobung" aus dem Jahre 1995 konstatieren wir wieder die für den Künstler typische, progressiv sich vollziehende Abstraktion der malerischen Mittel.

Diese Abstraktion in Form allongierter, aufgerichteter, bis hin zur Ungegenständlichkeit von Schattenrissen zurückgenommener Wesen, wird deutlich sichtbar in den Figurengruppen zum "Tod zweier Propheten" (1994) oder bei den "Vier Figuren mit Penissen" (1995) . Noch eindringlicher zeigt sich die damit einhergehende Anonymisierung der Masse Mensch in den Figurengruppen aus der Serie der "Großen Versammlung“(1995). Ihre reduzierte Faktur erinnert an die hoch aufgerichteten, wie skelettiert wirkenden Skulpturen Alberto Giacomettis. Während diese allerdings Entfremdung und Ein­samkeit in einer eher solitären Existenz erfahren, leidet Karl Chroboks Personal an erstickender Enge. Zusammengeballt in einem unregelmäßig geformten, in der Mitte geteilten Ballon, stehen die vielfarbigen und elenden Strichfiguren wie Antipoden gegeneinander und übereinander . wie auf einem Erdball, der zu klein zu werden droht.
 

Die Titel der Werke von Karl Chrobok sind signifikativ. Nicht nur, indem sie immer wieder die Themen benennen, die wir hier ein wenig verfolgt haben. Sondern auch, indem sie das Phantasmagorische, das Verschlungene, das Suchende und Widersprüchliche der malerischen Bewegung benennen, vor allem da, wo vom "Stachelwesen" und "Schnabelkönig", vom "Labyrinthpilger" und "Wanderer", von "Komposition" und der "Begegnung zweier Maler" die Rede ist. Von dem englischen Schriftsteller Oscar Wilde stammt die denkwürdige Sentenz "Nur wer die Form beherrscht, kann sie verletzen". Karl Chrobok beherrscht die malerische Form, und aus diesem Grund erlebt er immer wieder das Ungenügen an einer einmal gefundenen, malerischen Lösung. Daher rührt das Polymorphe und Vielgestaltige seines Werkes, das sich nicht leicht auf einen Nenner bringen lässt.

Farbe und Form, Grund und Figur, Linie sind Fläche, sind gleichermaßen wichtig in seinem Oeuvre. Die frühen Bilder der achtziger Jahre sind vor allem der expressiven Figuration verpflichtet. Die Beschränkung auf wenige Farben und Motive ist cha­rakteristisch. Es folgen Bilder einer abstrahierenden Stilisierung, die das figurative Element indes noch weitgehend bewahren. Das Prinzip einer motivisch multiplen "all over" Struktur und einer fantasievoll sprühenden Farbpalette beherrschen die Leinwände dieser Zeit. Danach vollzieht Chrobok den Schritt zu einer kompletten Abstraktion im Bild, die sich anfangs in motivischer Kleinteiligkeit vollzieht und damit durchaus als kontrastive Analogie zur abstrakt. stilisierten Figuration der Arbeiten aus den späten achtziger Jahren begriffen werden kann. Mit Beginn der neunziger Jahre befreit sich Chroboks Pinsel und in gestischen Schwüngen bearbeitet er in aller Freiheit und ohne jede Rückversicherung an die Wirklichkeit seine Themen. Aber es scheint, als empfände der Künstler solche Bindungslosigkeit auf die Dauer als unbefriedigend und gerade die Köpfe, Menschen und Szenen der letzten Jahre zeigen wieder eine Neubesinnung auf das figurative Motiv. Widersprüche, Chaos und Komposition. Farbrausch und Farbdisziplin, Formlosigkeit und Formzwang, werden harmonisch befriedet. In diesen Bildern kommen die nomadischen Grenzgänge von Karl Chrobok zwischen dem „Großen Abstrakten" und dem "Großen Idealen" zu vorläufiger Ruhe.

 

Michael Stoeber